Das Schuhschachtelzimmer

14.03.2018

 

Das Zimmer des Lieblingsjapaners ist so eng.

 

Der große Trolley im Flur macht ein Durchkommen fast unmöglich und über den ausgerollten Futon kann man nur noch klettern. An jedem freien Vorsprung trocknet Wäsche mit 100-Yen-Shop-Klammern festgeklemmt. Um mich wachsen Berge an Boxen und zerlesenen Büchern, neugekauften Krawatten und Bewerbungsbroschüren, Plastiktüten, Souvenirs vom letzten Urlaub und eine einsame Socke -

türmen sich auf und in den Raum hinein, drohen bei jeder falschen Bewegung den Futon und mich gleich mit zu begraben. Kein Lichtstrahl oder Windhauch kommt hinein - der Lieblingsjapaner hat diesen Spleen, dass jeder Vorhang sonnenlichtundurchlässig verschlossen sein muss, dass uns auch ja niemand mit dem Fernglas im zweiten Stock ausspionieren kann. Die trocknende Wäsche am Fenster macht ein Vorhangspaltbreitöffnen aber auch fast unmöglich.

 

Tokyo ist so eng.

 

Wenn ich den Lieblingsapaner von der Uni abhole strömen an mir Menschen und Menschen und Menschen vorbei, dass ich fast keine einzelnen Gesichter mehr ausmachen kann.

Hochhäuser und Blinklichter und Getränkeautomaten und Stromleitungen.

Tokyo ist die bevölkerungsreichste Metropolregion der Welt. Aber der Platz ist begrenzt. Deswegen türmen sich Mehrfamilienhäuser, Supermärkte, Fabriken, Bürogebäude, Hochhäuser, schuhschachtelgroße Studentenwohnungen, Tempel und Schreine zu allen Richtungen auf und erinnern an die Boxen und Bücher im Schuhschachtelzimmer des Lieblingsjapaners.

Und wenn die Boxen- und Wohnungstürme noch die letzten Sonnenstrahlen abschirmen, dann wird mir hier manchmal alles viel zu eng, ich habe das Gefühl ich kann nicht mehr atmen.

 

Dann muss ich raus - 

ich zwänge mich vorbei am Riesentrolley im Miniflur, vorbei an vollgestellten Vorgärten, vorbei an der Fabrik mit dem riesigen Schlot. Dann bin ich unten am Fluss. Den Weg finde ich mittlerweile schon ganz allein. Am Fluss ist es anders. Ich kann wieder einzelne Gesichter erkennen. Ein alter Mann fährt seinen Shiba Inu im Fahrradkorb aus, eine Frauengruppe joggt an mir vorbei, ein Sportteam mit dreckigen weißen Hosen übt Baseball, ein ausländischer Mann weicht gekonnt meinem "Und woher kommst du?"-Blick aus.

Ich kann sie noch sehen, die Hochhäuser und Baukräne und Stromleitungen, aber wenn ich mein Gesicht in die Sonne halte, scheinen sie alle plötzlich sehr weit weg zu sein.

 

Unten am Fluss, da ist es weit.

 


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